Ein Mehrplatten-Linoldruck beschäftigt mich, lässt mich nicht los: Da gewährt ein mächtig-schwarzes, ornamentiertes Gitter Durchblicke auf ein von Mauern umfriedetes Areal mit Bäumen und Häusern. Acht dunkle Gestalten bewegen sich auf ein langgestrecktes Gebäude zu, vielleicht ein Krankenhaus, ein Sanatorium, ein Pflegeheim? Die Eingänge sind klein und schwarz und doch unmissverständlich (im) Zentrum des Bildfeldes. Darüber befindet sich ein Dachreiter mit einer Uhr.
Dieser Linolschnitt von Oda Seemann aus den Jahren 1960/61 vergegenwärtigt nicht überschäumend-saftiges Leben, keine Turbulenzen – eher eine meditative Beschaulichkeit. Die grafischen Mittel sind sparsam und doch einfallsreich. Die Arbeit gibt sich spröd und doch liebenswürdig, streng, wohlausgewogen geordnet und doch belebt. Aber nichts schießt ins Kraut. Die Vegetation ist rundum gestutzt. Kein Blatt hängt mehr am Baum. Die Stimmung mutet eher bedrückend an denn heiter…
Mir ist nicht recht wohl bei dieser Art Beschreibung – obgleich ja alles augenscheinlich so ist. Zumindest aber erscheint Vorsicht geboten, wo im Übereifer die Gefahr der Überinterpretation droht.
Gewiss, hier ist eine Lebensspur erbarmungslos abgebrochen, fertig bis zum letzten unfertigen Strich. Da gibt es nicht mehr die Arbeit im Entstehen, in der Auseinandersetzung, im Prozess – voller Hoffnungen, voller Unwägbarkeiten, voller Überraschungen. Da sollte etwas Verbindliches, etwas Handfestes gesagt werden, aber auch Zweifel müssen erlaubt sein, gerade vor dem Hintergrund einer betroffen machenden Lebens- und Krankengeschichte. Man tut gut daran, dem allzu Offensichtlichen zu misstrauen. Wie schnell ist übers Ziel hinaus geschossen.
Halten wir uns doch eher an das Fassbare, an die Tatbestände, an die sparsamen Daten eines geradlinig-konsequenten, tapferen Lebens: Am 4. Februar 1938 wurde Oda Seitz in Stuttgart geboren. Sie wuchs in Bopfingen und ab 1950 in Esslingen am Neckar auf. Von 1957 bis 1961 erfolgte das Studium der Kunsterziehung an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart bei den Professoren Rudolf Daudert, Christoff Schellenberger, Karl Rössing und Gunther Böhmer, von 1961 bis 1963 das Beifachstudium Geographie an der ehemaligen Technischen Hochschule Stuttgart. 1963 Heirat mit dem Bildhauer Karl Henning Seemann und Umzug nach Braunschweig. Von 1963 bis 1966 folgten Referendarausbildung und Schuldienst. 1967 wurde die erste Tochter geboren, anschließend wieder Schuldienst und Ernennung zur Studienrätin.1970 Geburt der zweiten Tochter, 1971 bis 1975 in Rethen, Kreis Gifhorn, ab 1975 in Löchgau, Kreis Ludwigsburg, ansässig. Ab 1981 Übernahme eines Teillehrauftrages Kunsterziehung am Gymnasium Besigheim. Am 16. Februar 1987 ist Oda Seemann in Stuttgart gestorben.
Zusammengezählt sind es gerade zehn Jahre, die durch bildnerische Spuren belegbar werden – zwei jeweils relativ kurze Lebensabschnitte: Zum einen handelt es sich um die Zeit von 1959 bis 1964 mit einer Serie von Linolschnitten, sowie mit Studien aus der Wilhelma, von Wyk auf Föhr und der Insel Möhn. Zum zweiten gibt es Arbeiten aus den letzten Lebensjahren, von 1983 bis 1986 mit Reiseskizzen aus Sizilien, aus Lanzarote und aus Rom, sowie Blicke aus dem Fenster in Löchgau und vom Katharinenhospital Stuttgart. In den Jahren dazwischen waren alle Kräfte und Begabungen von Oda Seemann in den Aufbau der Familienexistenz und in die Kunsterziehung geflossen. Eine zeitliche Spanne von fast zwanzig Jahren liegt zwischen diesen beiden Werkgruppen, die fragmentarisch für zwei Lebensabschnitte stehen. Veränderung und Entwicklung sind unschwer ablesbar. Von besonderem Reiz erweist sich das Aufspüren des Gemeinsamen, der speziellen Auffassung und Wesensart dieser Arbeiten: Zunächst fällt auf, dass der Mensch weitgehend ausgespart bleibt. Nur zweimal in dieser gesamten Bildfolge tauchen überhaupt Menschen auf. Neben den bereits erwähnten „dunklen Gestalten“ ist es die Graphikerin selbst, wie sie frontalgesichtig, aber merkwürdig dezentralisiert, an den rechten Bildrand gedrückt, auf einem relativ frühen Linolschnitt aus der Rössing-Klasse erscheint.
Die Bildmotive bei Oda Seemann werden niemals weit hergeholt, allesamt sind sie ganz nahe liegend, selbstverständlich – und haben doch durchweg ihren ureigenen, tiefen Sinngehalt: Das Fenster, das Haus, die Stadt, der Baum, die Wiese, der Vogel, die Brücke, das Schiff. Auffallend sind insbesondere die zahlreichen Fensterausblicke mitsamt den Fensterkreuzen. Ganz selten, wie etwa beim ausgesprochen heiteren Löchgauer Obstwiesenmotiv, kommt sie ohne den eingrenzenden Fensterrahmen aus.
Nicht weniger auffällig artikuliert sich die Bildgestalt: Durchgängig zeigt sich eine starke Neigung zur Vergitterung, zur stabilen Gliederung. Die Bildelemente werden jeweils festgemacht, ihr Platz wird präzise bestimmt, ihnen wird – oftmals durch ein geheimes Koordinatensystem – Halt gegeben, nichts bleibt dem Zufall und der Willkür überlasen. Selbst schroffe Gebirgsformationen, schrullig-barocke Schwemmhölzer, weitläufige Stadtlandschaften werden unter ihrer Hand organisiert, eingespannt und gebändigt. Auch ein Lehrerwechsel, der in ihre Akademiezeit fiel, von Karl Rössing zu dessen Nachfolger Gunther Böhmer, verleitet Oda Seemann nicht, sich dem Spontan. Gestischen unversehens zuzuwenden. Nein, sie verteidigt konsequent, unbeirrt ihre Auffassung, ihre Sicht, ihre Haltung: ihr kleines Stückchen Welt zu ordnen. Nicht schematisch und stur, sondern durchaus lebendig.
Ähnliche Empfindungen entnehme ich einem Brief von Karl-Henning Seemann, wo er schreibt:“…Mir fiel von Anfang an auf, wie klar und mühelos sich bei ihr die Fläche ordnete, wie groß und prall Formen im Format standen und wiesehr sich ihre geschriebene Handschrift mit der gezeichneten, mit der Handschrift der Grafikerin deckte.
Klarheit und Ordnung, auf der Bildfläche, im kraftvollen, oft ornamentalen Aufbau, aber ebenso im Räumlichen, wo immer sie es gestaltend anpackte, im Haus , im Garten oder in der kommunalpolitischen Diskussion um die Erhaltung des Dorfbildes als Gemeinderätin, und, nicht zuletzt, in ihrer Zeiteinteilung: das ist es vielleicht, was mir an Odas Begabung besonders auffiel, wohl auch deshalb Eindruck machte, weil mir dies alles so viel schwerer fällt.
Für mich ging von ihrem Arbeiten wie auch von ihrer Persönlichkeit die gleiche strahlend freundliche und doch so ernste Ruhe aus, die ich immer als mal heilsamen mal spannungsträchtigen Gegenpol zu meiner eigenen, wohl oft chaotischen Dynamik empfunden habe… Dieses Draufloswühlen war nicht ihre Art.
Ein geordnetes und im besten Sinne ökonomisches Vorgehen bei ihrer Arbeit bewunderte auch der Drucker ihrer Linolschnitte Max Dunkes in München. Ein Maximum an graphischer Wirkung bei einem Minimum an Druckplatten und technischem Aufwand.“
Der Ehemann, der Drucker, ein Weggefährte aus gemeinsamen Studienjahren.. sie alle stimmen in dem überein, was sie als charakteristisch für Odas Seemanns Werk ansehen. Hoffentlich lässt diese massive Einhelligkeit dem Betrachter noch hinreichend Freiraum zur eigenen Entdeckung und Entschlüsselung der Bilder. Denn was wären diese ohne Geheimnisse, ohne Ungereimtheiten, ohne Rätsel und Zauber, ohne das Nicht-Erklärbare und Nicht-Sagbare?
Dieter Groß